Ein Zeitzeugen-Projekt
Das Jahr 2014 stand im Zeichen der Erinnerung an die 100jährige Geschichte des 1. Weltkrieges. In 2015 jährt sich nun der 2. Weltkrieg zum 70. Male. Dabei sind schon mit dem Datum 8. Mai 1945 eine Vielzahl verschiedener, ja gegensätzlicher Erfahrungen und Erinnerungen der seinerzeit Über-Lebenden verbunden. Das Kriegsende war Kapitulation, Zusammenbruch, Befreiung und Neuanfang zugleich. Viele größere Städte lagen in Schutt und Asche. Auch in kleineren Orten waren Versorgungsnot, Hunger, Verlust, Angst, aber auch Hoffnung und Sehnsucht nach Normalität an der Tagesordnung. Deutschland war von den Siegermächten besetzt, befand sich – gleichsam wie in einer „Stunde Null“ – vor einem ungewissen Neuanfang. Das Jahr 1945 markiert bis heute eine psychologisch tiefgehende Zäsur.
Die Generationen, die diese schwere Zeit erlebten, sind zeitlebens davon geprägt worden. Der damalige Überlebenswille mag zu einigen „Verdrängungen“ geführt haben, viele Erlebnisse sind aber immer noch gegenwärtig. Einiges ließ sich vielleicht vergessen, anderes bleibt unvergesslich. Diejenigen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, haben heute das 70. Lebensjahr deutlich überschritten. Es ist höchste Zeit, sie nach ihren Erlebnissen und Erinnerungen zu befragen. Die Kinder und Enkelkinder wollen heute durchaus wissen: Wie habt ihr diese trostlose Zeit erlebt und überlebt? Woher habt ihr die Kraft genommen, Neues aufzubauen und Lebensfreude zurück zu gewinnen? Es stellen sich viele Fragen zum damaligen Alltag – und sicherlich gibt es dazu noch Die „Freunde und Förderer der Wilhelmshorster Ortsgeschichte“ sammeln seit längerem Erinnerungsberichte von Zeitzeugen unseres Ortes aus den 1940er Jahren (vgl. das
Jubiläumsbuch „100 Jahre Wilhelmshorst 1907-2007“, S. 338 ff.). Wir wollen dieses Vorhaben nun fortsetzen und suchen weitere Erinnerungen zur Kriegs- und Nachkriegszeit. Hierzu führen wir auch ein gemeinsames Projekt mit Schülern der Wilhelmshorster Grund- und Oberschule durch. So erhalten die heutigen Kinder und Jugendlichen einen Zugang zur Geschichte durch das direkte Gespräch mit Menschen, die damals in dem gleichen Alter waren, wie sie jetzt sind. Dies ist aktueller denn je, denn Krieg, Vertreibung und Flüchtlinge sind auch in Europa immer noch eine Realität!
Helfen Sie uns
Wir bitten alle Bürgerinnen und Bürger aus Wilhelmshorst und Langerwisch, die vor 1940 geboren und bereit sind, sich unseren Fragen und denen der Schüler zu stellen, mit uns Kontakt aufzunehmen (Telefon 033205-62667). Bereits schriftlich verfasste Erinnerungen oder Notizen sowie Dokumente und private Fotos aus den 1940er Jahren sind für das Vorhaben besonders hilfreich. Dazu zählen natürlich auch gegenständliche Überreste.
J. Brauer / W. Linke / R. Paetau
Als 1944 Geborener habe ich nur Erinnerungssplitter aus Kindertagen zum Thema Krieg, also zur Nachkriegszeit: Neben unserem etwas zurückgesetzten Haus in der heutigen Peter-Huchel-Chaussee 95 war der kleine Laden der Lüdemanns. Da ging ich gerne mit zum Einkaufen, da er ausserhalb des umgrenzten mir erlaubten Reviers lag, dem grossen Obst- und Gemüsegarten unseres Anwesens mit seinem Feldsteinsockel. Lüdemanns waren freundliche Kaufleute, aber gegenüber auf der anderen Strassenseite, da war eine grosse Lücke mit einem Bombenkrater, dessen Schutt und Aushöhlung man von der Strasse aus gut sehen konnte. Der entfachte meine Neugier, auch wenn er für mich nicht begehbar war. Vom Krieg bekam man ja immer wieder was mit, was die Phantasie anregte. Wirklich vermittelt wurde auf Fragen weniger. Eher wurde geschwiegen, um so mehr, wenn ich zu oft nachfragte. Ein Onkel blieb ja in Rumänien im Krieg und der Vater war seit dem Kriegsende verschollen und galt als vermisst. Dies eindrucksvolle Wort hörte ich sehr oft. Täglich dröhnte auch ein paar Mal ein Doppeldecker über den Ort. Der sollte auch etwas mit dem Krieg zu tun haben. Es gab auch einen Kriegsheimkehrer um die Ecke Richtung Irissee, den Mann von Tante Lisa, wie wir Frau Ahlborg nennen durften. Den hab ich auch mal nach dem Krieg gefragt, dann war er aber wieder für eine Weile weg. Es hiess, er mache eine grosse Radtour in Jugoslawien, dort wo er gekämpft habe. Diese Orte wolle er nochmal sehen. Und dann hing da in der Nähe an einem Haus immer eine Schweizer Fahne. Die wurde mir erklärt. Die Schweiz war neutral, der Besitzer der Fahne war eine Schweizer Familie. Sie hätten mit dem Krieg nichts zu tun und werden in Ruhe gelassen, zum Beispiel von den Russen. Die sah man auch öfters in Uniformen. Es waren also die ersten Soldaten, die ich gesehen habe.
Aus unserem Haus ging es aber schon auch mal weiter weg, so an der Hand von Oma Grete zum Bauern Käthe nach Neulangerwisch. Dort half sie aus und bekam Naturalien, während ich mit Tieren in dem grossen Innenhof spielen konnte. Die Schwester war für solche Unternehmen noch zu klein. Unterwegs auf der unvergesslichen bis heute eindrucksvollen Baumallee haben wir auf den angrenzenden Feldern auch manchmal Ähren gelesen. Das machte Spass. Ich war ja noch als kleiner Stepke dem Boden näher. Im Garten wurden in einem Jahr keine Erdbeeren gesetzt. Dafür wuchs Mais, der auf der Kaffeemühle gemahlen wurde. Ich sollte mit den Körner nicht spielen. Mit Essen spielt man ja nicht.
Und dann gab es richtige Ausflüge. Mit Oma ging es ein paar Mal zu Fuss sogar nach Rehbrücke, wenn die Bahn in Wilhemshorst verpasst wurde. Dann fuhren wir weiter und mussten bei Griebnitzsee aussteigen und über eine Brücke auf die andere Seite des Kanals laufen. Man konnte durch die Bretter auf der zerstörten Brücke hinunter auf das Wasser schauen, das war ein bisschen unheimlich. Auf der anderen Seite ging es wieder weiter mit einer anderen S-Bahn in das Zentrum von Berlin, wo in Charlottenburg und in Köpenick Verwandte wohnten. Und überall konnte man die bizarren Ruinen und auch Steinklopferinnen sehen. Oma mochte es nicht, dass ich die Ruinen so faszinierend fand. Ziel in Berlin war aber meist, Pilze zu verkaufen, die wir gesammelt hatten. Ich konnte damals ja noch nicht zählen, aber anscheinend soll ich 22 Sorten unterschieden haben. Die Familie war naturverbunden und angesunden Lebensweisen orientiert. Der verschollene Vater hatte ja Pflanzen und Tiere für den Zoo gemalt. Wir liessen manchmal etwas Essen auf dem Teller, für den Fall, dass er überraschend wieder heimkehrt. Der Alltag in der Familie war von dieser Wunschphantasie geprägt. Andere Erinnerungen an Wilhelmshorst, wo ich die ersten sechs Lebensjahre bis zum Wegzug nach Süddeutschland verbracht habe, sind durchaus lebendig, aber nicht direkt vom Krieg geprägt.
Ekkehard Schröder, Potsdam