„Spaziergang zur Ortsgeschichte“ über Häuserbiografien und Denkmalschutz Wie geheimnisvoll! Eine Staffelei mit verhülltem rechteckigen Gegenstand, plaziert auf der Grünfläche des Michendorfer Platzes unter rot-gold leuchtendem Herbstlaub im herrlichen Sonnenlicht. Da bildete sich an diesem schönen Herbstmorgen des 12. Oktober schnell eine erwartungfrohe Gruppe von 35 ortsgeschichtlich Interessierten, die etwas zur Wilhelmshorster Architekturgeschichte erfahren wollten. Sie waren der Einladung der Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte gefolgt, die sich namentlich an deren „Freunde und Förderer“ richtete.
In seiner Begrüßung verriet Dr. Paetau mit Blick auf den verhüllten Gegenstand, aus der Not eine Tugend gemacht zu haben: Nicht mehr Existierendes werde hier visualisiert. Die Enthüllung gab dann den Blick nicht nur auf einen riesigen alten Bilderrahmen frei, der aus einem hiesigen Müllcontainer vor der Verschrottung gerettet und von Herrn Hildebrand fachgerecht restauriert worden ist. Vielmehr war ein großes Farbfoto zu sehen mit einem vielen Wilhelmshorstern bekannten, Ende 1995 leider abgerissenen Fachwerkhaus – dem vom Grundstücksmakler G. Kapuste Mitte der 1920er Jahre errichteten Wohnhaus.
Den Einzelfall des geretteten alten Holz-Bilderrahmes nahm Herr Paetau zum Anlass, um auf die kulturgeschichtliche Bedeutung von Sachgegenständen aller Art hinzuweisen: Gegenstände der Alltagskultur, die es wert sind, gesammelt und aufgehoben zu werden, gerade auch aus der DDR-Zeit vor 1990. So möchte die „Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte“ mittelfristig ein kleines „Museum zur Ortsgeschichte“ einrichten. Soweit Wilhelmshorster Bürger derartige Gegenstände haben und sie abgegeben möchten, erbittet die Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte um Kontaktaufnahme mit Herrn Wolfgang Linke oder Frau Christa Stiemke (Tel. 62667 / 46785).
Alsdann übernahmen der Architekt Ingo Allwardt und der Kenner der Ortsgeschichte, Wolfgang Linke, die weitere Führung der ArchitekTour. Das älteste Haus des Ortes steht An der Bahn Nr. 20 und trägt die Jahreszahl 1905. Es wurde vom Ortsgründer Wilhelm Mühler errichtet und 1914 von der Familie Dorsch erworben. Seitdem ist es unter der Bezeichnung „Haus Dorsch“ bekannt. Da es bis in die dreißiger Jahre in Wilhelmshorst keine Hausnummern gab, wurden die Häuser mit den Namen der Besitzer verbunden (z.B. „Färber-Villa“). Im „Haus Dorsch“ betrieben nacheinander drei Kaufleute ihre Lebensmittel-Läden (Remus, Japé und Otto Krüger). Ein kurzer Abstecher in den Birkenweg führte vor das leerstehende, dem Verfall preisgegebenen Haus Nr. 8, in dem seit Mitte 1932 der bekannte „Wilhelmshorster Bote“ von Kirch & Schwichtenberg redaktionell hergestellt worden war. Im Haus gegenüber hatte von 1931 bis 1933 die Schule zwei Unterrichtsräume angemietet und im Haus Nr. 6 war jahrelang der Kindergarten zu Hause.
Seit zwei Jahren völlig leerstehend, nagt der Zahn der Zeit unübersehbar am Gebäude der ehemaligen „Schulküche“ bzw. des „Jugendclubs“ An der Bahn/Ecke Heidereuterweg. Dieses Fachwerkhaus aus den 1920er Jahren mit schönem Biberschwanz- Dach erscheint durchaus nicht so marode, wie mancherorts behauptet. Dass derartige Häuser durchaus zu restaurieren sind, ist derzeit am „Haus Bansemir“ (später Frau Dr. Mehnert, An der Bahn Nr. 13) zu studieren, auch wenn man über Details der Restaurierungsarbeiten unterschiedliche Meinungen haben kann.
Dann der Knüller des Tages. Während alle Häuser gewöhnlich nur von außen bzw. von öffentlichen Wegen aus besichtigt werden können, durfte diesmal das Grundstück nördlich gegenüber vom Bahnhof (An der Bahn Nr. 6) betreten werden. Ja, der neue Eigentümer öffnete sogar das leerstehende Haus zu einer Innenbesichtigung. Es handelt sich um das legendäre „Café Weber“ mit ehemals wunderschöner Gartenterrasse. Es wurde in den 1920er Jahren im repräsentativen Baustil errichtet und verzaubert noch den heutigen Betrachter mit seinen weinumrankten Jugendstilfenstern. Seit Beginn der 1930er Jahre beherbergte es ein Café mit kleinem Restaurant, das auch einige örtliche Nationalsozialisten zu ihrem Stammlokal erkoren hatten. In den ersten Jahren nach 1945 dienten einige Räume im Obergeschoss der Schule für den Turnunterricht. Doch anwesende ältere Wilhelmshorster gerieten ins Schwärmen, als sie sich an schöne Tanzveranstaltungen und Feiern in diesen Räumen erinnerten.
An den Bergen ging es weiter bergauf zum schönen Haus Nr. 100. Unfassbar, dass dem lange leerstehenden Gebäude vor wenigen Jahren schon der Abriss drohte, als zu guter Letzt doch noch ein Retter erschien. Der neue Eigentümer hat das äußere Erscheinungsbild glücklicherweise erhalten. Der herrliche Fachwerkbau mit Holz- Veranda, 1923 für den Apotheker Dr. Göhl erbaut, ist wieder ein Blickfang geworden –ein weiterer Beleg dafür, wie sehr restaurierte Häuser zum Erhalt des einmaligen Charmes und damit zur Wohnqualität dieser Waldsiedlung beitragen.
An den Bergen Nr. 87 hatte der Kunstmaler Sewig in den 1920er Jahren ein kleines Waldhaus errichtet. Im Laufe der Zeit sollte es sich „entwickeln“: erst kam einkleiner, dann ein größerer Anbau hinzu. Das „Ensemble“ passt sich perfekt in die Natur ein und ist von der Straße aus kaum einzusehen –ein lauschiges Plätzchen.
Als Kontrapunkt verharrten die „Spaziergänger“ zum Schluss vor dem Neubau- Objekt Eichenweg Nr. 23: einem verklinkerten Wohn- und Atelierhaus mit Innenhof und Turm, dem Herr Allwardt eine ansprechende Architektur bescheinigte, da es „aus dem Grundstück heraus“ entwickelt worden sei.
Da dieser Spaziergang auf den Spuren Wilhelmshorster Vergangenheit wiederum ein recht positives Echo gefunden hat, sieht sich die Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte in ihrer Auffassung bestätigt, zur Vorbereitung einer Festschrift zur 100-Jahrfeier von Wilhelmshorst im Jahre 2007 weiterhin lokalhistorische Spaziergänge zu unterschiedlichen Themen anzubieten.
Dieter Kraus
Fotos: I. Allwardt (1), V. Tanner (2)