Ein kleines Buch gibt jetzt Auskunft darüber, was im Herbst 1989 im Raum Michendorf los war
Im Sommer 1989 reist die 9. Klasse der Wilhelmshorster Schule in ein „Lager für Arbeit und Erholung“ nach Halle an der Saale. Ein paar Schüler nutzen nach der Arbeit die freie Zeit und erkunden auf eigene Faust mit dem Fotoapparat die zerbröckelnde Altstadt von Halle. Bilder von kaputten Häusern entstehen, die nicht in der Schublade verstauben sollen.
Am Vortag des 40. Jahrestages der DDR kommt zwei Schülern der Gedanke, die Fotos auszustellen. Sie arbeiten bis nach Mitternacht an einer Wandzeitung und pünktlich zum Republikgeburtstag hängt sie – allerdings nicht lange. Die Wilhelmshorster SED-Ortsparteileitung lässt sie nach einem Rundgang entfernen. Und die Schüler werden ins Direktorenzimmer bestellt, wo ein „Tribunal“ auf sie wartet, wie es Torsten Lodni, einer der beiden Schüler, 20 Jahre später in einem Beitrag zum Wilhelmshorster Wende-Buch schreiben wird.
Während ein Oberst der Volkspolizei noch einmal zeigt, was ein Betonkopf ist, und die beiden Jungen beschimpft, hält sich die Lehrerin zurück und ein Kollege von ihr lässt sich zu dem Satz hinreißen: „Naja, so toll ist Halle wirklich nicht.“
Das Gespräch im Direktorenzimmer steht wie die Altstadt-Ruinen für die Situation in den letzten Wochen in einem verlorenen Land, in dem auch Menschen, die im System verankert waren, die quälende Schönfärberei nicht mehr ertragen konnten.
Es sind vor allem diese Innenansichten aus der späten DDR, die das Buch interessant machen, das die „Freunde und Förderer der Wilhelmshorster Ortsgeschichte“ über den Wendeherbst und den Mauerfall vor 20 Jahren vorgelegt haben.
Das Buch gibt Auskunft, was 1989 im Raum Michendorf los war. Auf 93 Seiten sind 17 Erinnerungsberichte von Menschen festgehalten, die mit der Region verwurzelt sind und die Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven reflektieren. Da ist zum Beispiel die Geschichte des Michendorfer Pfarrers Uwe Breithor, der am 7. Oktober 1989 mit einem Freund zur Demonstration des Neuen Forums nach Potsdam geht. Breithor blieb ein Satz des Freundes unvergessen: „Lasst uns die Kommunisten stürzen!“ Fünf Jahre später offenbarte der Freund, er sei zu jenem Zeitpunkt schon seit längerem IM der Stasi gewesen.
In dem Band kommt auch die Wilhelmshorster Schauspielerin Anja Kling zu Wort, die mit ihrer Schwester Gerit sechs Tage vor dem Mauerfall aus der DDR floh und am Tag der Grenzöffnung die Hilfsbereitschaft der Menschen im Westen erlebte. Die Kling-Schwestern zog es kurz nach dem Mauerfall natürlich nach Berlin. Das Geld für den Flug reichte nicht, doch die Lufthansa-Mitarbeiter nahmen sie trotzdem mit.
Für den Historiker Rainer Paetau sind es die kleinen Geschichten, die erst die „große Geschichte“ verständlich machen. Als Herausgeber des Buches ist es ihm zu verdanken, dass die kleinen Geschichten aus der Region für die Nachwelt festgehalten sind. Die des Schülers Torsten Lodni endet mit einem Sieg auf ganzer Linie. Die Fotos der kaputten Altstadt von Halle, die im Oktober ’89 nicht gezeigt werden durften, hingen ein paar Montagsdemos später im Rathaus in Wilhelmshorst. Und der Betonkopf, der ihn vorher bedrängte, klopfte Lodni auf die Schultern und gratulierte ihm zur gelungenen Foto-Wandzeitung. Der Volksmund fand schnell einen Begriff für solche Rollenwechsel: Wendehals.
(Von Jens Steglich)
Quelle: MAZ
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