WILHELMSHORST Als Ilselore Brink am Wilhelmshorster Bahnhof aus dem Zug stieg, kam ihr alles wie früher vor. „Ich hatte das Gefühl, nie weg gewesen zu sein.“ Früher – das war in den 30er und 40er Jahren, die Zeit ihrer Kindheit, die sie in Wilhelmshorst verbrachte.
Die Tour aus dem kanadischen Edmonton in die alte Heimat, die gerade 100 Jahre Ortsgründung feierte, geriet denn auch zu einer Reise zurück in Kindheits- und Jugendtage, die mit dramatischen Erlebnissen verbunden sind. Noch heute kann sie sich an einen Tag kurz vor Kriegsende erinnern. Die damals 17-Jährige bangte um ihren Vater und versuchte, ihn vor einem riskanten Gang abzuhalten. „Wenn du gehst, werden sie dich erschießen.“

Der Vater hieß Alfred Suhl, von 1938 bis 1945 Bürgermeister von Wilhelmshorst. Er ließ sich nicht abhalten, ging mit weißer Fahne der Roten Armee entgegen. Seine Botschaft: Im Ort sind nur alte Männer, Frauen und Kinder, keine Soldaten. Wilhelmshorst ergibt sich… „Das Schlimmste hat er dem Ort dadurch erspart“, sagt die Tochter. Bei ihrer Rückkehr besuchte sie das Grab des Vaters, der auf dem Wilhelmshorster Friedhof seine letzte Ruhe fand. Alfred Suhl war nach dem Krieg, als die Not im Ort, der keine Bauern hatte, am größten war, verhungert.

Was aber verschlug die Tochter später nach Kanada? Sie erzählt von einer Reise in die Schweiz. Bei einem Spaziergang begegnete ihr ein Chirurg aus Kanada. Sie selbst war Krankenschwester und liebte die Berge. „Sie müssen einmal in die Rocky Mountains kommen“, sagte der Arzt aus Edmonton. Ilselore Brink, die damals noch Suhl hieß, flog 1954 nach Montreal, stieg in den Zug nach Edmonton und kam nach vier Tagen und drei Nächten dort an. Eigentlich wollte sie nach einem Jahr zurück zur Mutter nach Wilhelmshorst. Doch es kam anders. Kanada wurde ihre neue Heimat, auch wenn der Kontakt zur alten nie abbrach. In Edmonton arbeitete sie als OP-Schwester und lernte einen Norweger kennen. Irgendwann nahm er sie mit zu einem Picknick. Die Deutsche hat noch heute vor Augen, wie dort drei Männer auf einer Decke saßen und Skat spielten. Unter ihnen Heinz Brink, ein Deutscher aus Schlesien. Ihn würde sie später heiraten, mit ihm würde sie 2007 nach Wilhelmshorst reisen, um beim Ortsjubiläum dabei zu sein.

Dort erlebte die 80-Jährige, die auch Ski-Lehrerin in den Rocky Mountains war, rührende Momente. Etwa, als sie bei der Festveranstaltung die Kinder von Wilhelmshorstern traf, die sie aus der eigenen Kindheit kannte. Mit dem Ortsjubiläum verbinde sie wunderbare Erinnerungen, sagt sie. Alte, die wieder hochkamen und neue, die bleiben werden. jst
MAZ