Spaziergang zur Ortsgeschichte Wilhelmshorst

Hand aufs Herz: Hätten Sie gewusst, dass Wilhelmshorst jahrzehntelang indirekten Zugang zu den Weltmeeren hatte? Dass man von der Anlegestelle am „Forsthaus Templin“ mit dem Schiff über die Havel und Elbe zur Nordsee und hinaus in die weite Welt schippern konnte?

Gruß aus Templin – 1904

Dies mag zunächst verblüffen. In der Erinnerung vieler, selbst alteingesessener Wilhelmshorster scheint die historische Tatsache zu verblassen, dass das Gemeindegebiet sich einst bis zum Templiner See erstreckte: Das Waldgebiet nördlich von Caputh über die Halbinsel Templin bis zum Nesselgrund bzw. zur Trasse des Berliner Außenrings war von den 1920er bis Ende der 1950er Jahre Wilhelmshorster Gemeindegebiet, bis es an die Stadt Potsdam abgetreten werden musste. Hingegen ist bei vielen Wilhelmshorstern in guter Erinnerung, wie sie als Kinder und Jugendliche ihre Sommerferien am Templiner Strand verlebten. Oder als Erwachsene die fünf Kilometer quer durch den Wald wanderten, ein Bad im See nahmen und anschließend in der herrlich gelegenen Gaststätte „Forsthaus Templin“ einkehrten. Manch’ lustige Anekdote gäbe es da zu erzählen.

Dies und die Neueröffnung des geschichtsträchtigen „Forsthaus Templin“ nahm die „Arbeitsgemeinschaft Ortsgeschichte“ daher zum willkommenen Anlaß, sich nicht nur auf die Spur der früheren und heutigen Wilhelmshorster Grenzen zu begeben. Vielmehr sollte es auch um die idyllische Naturlandschaft im Großraum der Potsdamer Kulturlandschaft gehen –handelt es sich doch um eine der entscheidenden Gründungsbedingungen dieser ehemaligen Landhauskolonie nach 1900 neben der schnellen Verkehrsanbindung per Eisenbahn an die Groß- und Hauptstadt Berlin.

Dem schauerhaften Wetter am Sonntag, dem 23. Mai, trotzend, waren 40 Unentwegte der öffentlichen Einladung zu einem „Spaziergang zur Ortsgeschichte“ gefolgt und hatten sich auf dem Goetheplatz eingefunden. Hier überraschte sie gleich zu Beginn Volker Horn, Tenor an der Deutschen Oper Berlin, als er den fragmentarisch überlieferten Kanon des Wilhelmshorster Liedes „Schöne Berge …“ intonierte. Nachdem Dr. Rainer Paetau in das Thema eingeführt und die Mitwirkenden kurz vorgestellt hatte, machte sich die Gruppe auf denWeg entlang der Potsdamer Straße in Richtung Norden.

Dabei nutzte Wolfgang Linke sogleich die Gelegenheit, an eine Reihe kleiner Handels und Handwerksbetriebe zwischen Goetheplatz und nördlichem Ortsausgang seit den 1930er Jahren zu erinnern. Denn wer kann noch so seltsam klingende Kürzel wie „El- Be Feinkost“ auflösen? Es steht für die frühere Inhaberin Ella Beljaninow. Auf der Höhe „Grüner Weg“ musste selbstverständlich der Name Gustav Winkler erwähnt werden. Er war der Erste, der hier fast sechs Morgen Land (ca. 1,5 ha) kaufte –und musste den gleichen Kaufbetrag noch einmal zahlen, um einen ausrangierten Eisenbahnwaggon als Unterkunft von Berlin dorthin transportieren zu lassen.

Hinter dem Friedhof bog die Wandertruppe nach Westen in den Wald hinein. Dunkle Wolken öffneten plötzlich ihre Schleusen, als der frühere Forstwirt Gerhard Mühlbach zielsicher rund rutschfest einen kleinen Baumstumpf bestieg und über die Entstehung der Landschaft und der Vegetation seit der Eiszeit im Rahmen des Klimawandels dozierte.

Es bleibt nur zu wünschen, diese detaillierte Einführung später im Wilhelmshorster Jubiläumsbuch in aller Ruhe und vor allem im Trockenen nachlesen zu können. Dies gilt auch für die Ausführungen des unlängst pensionierten Revierförsters Wolfgang Borowski aus Caputh. Die Biologie des Baumes in Verbindung mit der Waldbewirtschaftung aus der Perspektive des Försters vermittelt zu bekommen, bog so manch krumme Alltagsansicht gerade und hinterließ erhellende Aha-Blicke. Am inzwischen weitgehend verlandeten Saugartensee bot sich Herrn Borowski die Chance, vom Treffpunkt der Wildschweine den Bogen zum Jägerlatein zu spannen.

Daß mitten in der Natur auch die Wilhelmshorster Kulturgeschichte nicht zu kurz kam, dafür sorgte wiederum Herr Horn beim Erreichen des Caputher Heuwegs –und rezitierte das gleichnamige Gedicht von Peter Huchel. Gegen die Kühle des Wetters anschreitend, ging es danach flott bis zum nordwestlichen Rand des ehemaligen Gemeindegebietes.

Oberhalb des Nesselgrundes bzw. oberhalb des „Forsthaus Templin“ waren zwei historische Besonderheiten zu bestaunen, deren Überreste heute kaum noch ihre frühere Bedeutung erahnen lassen. Da ist zum einen versteckt unter Bäumen und Büschen der „Tammstein“ zum Gedenken an den Besitzer des Gebietes rund um das Forsthaus vor etwa 200 Jahren. Und da ist zum anderen dank einer vor wenigen Jahren verlegten Gasleitung eine frei gebliebene „Sichtachse“ über den Templiner See bis nach Potsdam- Sanssouci, die am besten im Winterhalbjahr bei gutem Wetter einzusehen ist. Dort oben am Steilhang zum Templiner See und Nesselgrund hatte der Domherr Tamm um 1800 sein „Belvedere“ gebaut und die Aussicht wie das Wohlwollen des preußischen Königs genossen.

Im Anblick der weniger wetterfest gekleideten Damen und Herren, die bereits die wohlige Wärme des in Sichtweite gelegenen „Forsthaus Templin“ verspürten, verkürzte Herr Paetau die Geschichte zum Haus und dessen parkähnlicher Umgebung; auch sie wird später im Detail nachzulesen sein. Begrüßt von einigen älteren Wilhelmshorstern, die mit dem Auto zur Waldgaststätte gefahren waren, legte die Wandergruppe bei selbstgebrautem Bier und Mittagessen eine wohltuende Rast ein. Dass die Erforschung der Ortsgeschichte keine staubtrockene Sache im stillen Kämmerlein sein muß, in geselliger Runde vielmehr neue Ideen für Teamarbeit geboren werden können, scheint hier bewiesen worden zu sein. Dazu trug auch „Erich aus Caputh“ bei, der sein Akkordeon hervorkramte und zum Mitsingen zu animieren suchte. Im Nu war die Zeit zu einer kurzen Besichtigung der Braumanufaktur gekommen. Der Braukeller beeindruckte derart, dass den beiden „Jungunternehmern“, die das Gebäude mit großem Engagement zu seiner Geschichte restaurieren ließen, zum Abschied nur noch ein „stets volles Haus“ gewünscht werden konnte. Anwesende Wilhelmshorster versprachen spontan, hierzu ihren Beitrag leisten zu wollen.

Am alpin anmutenden Steilufer des Templiner Sees entlang ging es vergnügt bei aufklarendem Wetter weiter in Richtung Caputh. Die bekannte „Marienquelle“ wurde gebührend beachtet: ein königliches Parkdenkmal aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, entworfen von dem renommierten preußischen Hofarchitekten Friedrich August Stüler nach dem (Vor-)Bild eines Details der Grabanlage Marias bei Jerusalem.

Mit dem Erreichen des Nordrands von Caputh verließen die Wanderer zwar das engere Gebiet der Wilhelmshorster Geschichte. Die AG Ortsgeschichte will jedoch über den lokalen Tellerrand hinausblicken und die Wilhelmshorster Beziehungsgeschichte zu den Nachbarorten pflegen. Nachdem Ingo Allwardt auf das Schicksal des jüdischen Kinderheims in den 1930er Jahre hingewiesen hatte (heute: „Anne Frank Haus“ für Jugendhilfe), hob Erika Britzke an, ehemalige Lehrerin für Deutsch und Kunstgeschichte. Als ausgezeichnete Kennerin gab sie eine engagierte Einführung in die Geschichte des international bekannten Sommerhauses von Professor Albert Einstein. Der deutsche Physiker jüdischen Glaubens und Nobelpreisträger verbrachte dort drei lange Sommer, bis er 1933 aus Furcht vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierte. Wie Frau Britzke zu berichten wusste, soll Einstein auf seinen Wanderungen in die Umgebung auch nach Wilhelmshorst gekommen sein.

Als letzter Punkt stand ein Abstecher in den „Gustav-Winkler-Weg“ auf dem Programm. Die Verblüffung war vielen anzusehen, warum die Caputher den Entdecker und ersten Einwohner von Wilhelmshorst mit einem Straßennamen ehren, während es in unserem Ort nichts Vergleichbares gibt. Dass der Berlin-Schöneberger Architekt Winkler hier in Caputh eine ganze Reihe Häuser plante und den Eigenheimbau seiner Bauarbeiter unterstützte, darauf machten Herr Linke und Herr Paetau abschließend aufmerksam, bevor es im Eilschritt zurück nach Wilhelmshorst ging.

D. Kraus / R. Paetau