SAMSTAGSINTERVIEW – Heimatforscher fanden heraus, dass viele Orte Michendorfs schon 1932 braune Hochburgen waren.

Die meisten Orte der Gemeinde Michendorf waren schon 1932 fest in der Hand der NSDAP. Das hat eine Arbeitsgruppe aus Ortshistorikern recherchiert. Mit Rainer Paetau, Sprecher der Arbeitsgruppe, sprach Jens Steglich.

MAZ: Ortshistoriker lassen normalerweise die Finger von Themen, die einen Schatten auf den eigenen Ort werfen.

Rainer Paetau: Wir müssen die Geschichte nehmen wie sie war und dürfen keine Themen ausklammern. Das heißt eben auch, dass nicht nur die angeblich schönen Seiten in schönen Bildern für die Ortschronik gezeigt werden, sondern auch die sensiblen, heiklen Dinge unserer Geschichte. In unserem Fall sind wir bei der Recherche für das WILHELMSHORSTer Jubiläumsbuch 2007 darauf gestoßen, dass die Waldgemeinde schon Anfang der 1930er Jahre ein „braunes Nest“ war. Das hat uns alle überrascht. Da stellt sich jedem Historiker die Frage, ist das ein Einzelfall in der Region? Jetzt mussten wir feststellen: Es ist kein Einzelfall.

Wo war der Stimmenanteil der Nazis besonders hoch?

Paetau: Wir haben die Zahlen für die NSDAP-Anteile bei den Reichstagswahlen von 1924 bis 1933 erhoben. Eine frühe Nazifizierung setzte in WILHELMSHORST und Michendorf ein, dort kam die NSDAP schon 1930 auf 27 beziehungsweise 23 Prozent. In Fresdorf dagegen waren es nur 7 Prozent, in Stücken 11. Das kehrt sich aber 1932 um. Die kleinen Dörfer wurden zu Hochburgen der Nazis. Zur Reichstagswahl im Juli 1932 erreichte die NSDAP in Fresdorf 68 Prozent, in Stücken 65. Auch in Wildenbruch und Neu-Langerwisch waren es über 50 Prozent.

Gibt es Erklärungen dafür?

Paetau: Noch nicht. Da muss vor Ort noch näher recherchiert werden. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, was ist in Fresdorf und Stücken in den zwei Jahren passiert? Wir müssen uns die Bevölkerungsstruktur in den Orten ansehen. Das freilich erklärt nur einen Teil. In kleinen Orten ist die soziale Kontrolle größer. Da spielen Leitpersonen wie Bürgermeister, Pfarrer, Parteiführer oder Gutsherr eine große Rolle.

Bei den Wahlergebnissen fällt auf, dass ein Riss mitten durch Langerwisch geht. In Alt-Langerwisch wählten wesentlich weniger die NSDAP als in Neu-Langerwisch.

Paetau: Das Phänomen Alt-Langerwisch ist in der Tat sehr interessant. Eine genaue Untersuchung muss noch erfolgen. Hier stellt sich die Frage: Was hat dazu geführt, dass die Alt-Langerwischer eher widerstanden? Dort gab es deutlich weniger NSDAP-Wähler, der SPD- und KPD-Anteil war wesentlich höher als in den anderen Orten der heutigen Gemeinde Michendorf. Selbst bei den Wahlen im März 1933, die schon keine freien mehr waren, weil NS-Gegner bereits verfolgt wurden, stimmten weniger als die Hälfte der Wähler in Alt-Langerwisch (41 Prozent) für Hitlers Partei.

In Fresdorf waren es 1933 82 Prozent NSDAP-Anteil, in Stücken 75 Prozent. Was haben sich die Dorfbewohner von Hitler erhofft?

Paetau: Ein starkes Motiv war die Ablehnung der Weimarer Republik. Die hat man mit Inflation und Wirtschaftskrise verbunden. Durch die Inflation wurden nicht nur die Kriegsschulden Deutschlands weniger, sondern der kleine Mann verlor auch sein Erspartes. Weimar loszuwerden, war daher ein Hauptmotiv, Hitler zu wählen. Vor allem die Jugend war empfänglich für das Gefühl einer neuen Gemeinschaft, die die Nazis versprachen.

Es geht ja hier um das Verhalten der Eltern und Großeltern heutiger Ortsbewohner. Gerade in kleinen Orten birgt das Konfliktpotenzial. Gibt es schon den Vorwurf der Nestbeschmutzung?

Paetau: Davor ist man nie sicher. Mir ist das noch nicht zu Ohren gekommen. Aber es ist klar, dass man mit solchen Vorwürfen rechnen muss. Ich kann nur sagen: Man kann und darf Geschichte nicht verdrängen. Selbst wenn man es tut – das Verdrängte kommt irgendwann wieder zum Vorschein. Je seriöser wir diese Zeit untersuchen, desto weniger ist dieser Vorwurf berechtigt. Man muss die Geschichte nehmen wie sie war, selbst wenn es meine Eltern betrifft.

Betrifft es Ihre Eltern?

Paetau: Ja. Sie haben damals aber nicht hier gewohnt – ich bin ein Zugezogener. Meine Eltern waren überzeugte Anhänger der Nazis. Sie waren damals junge Leute zwischen 18 und 20 Jahren und hatten es in der Weimarer Zeit schwer, Arbeit zu bekommen. Dann fanden sie Arbeit und machten nach 1933 beruflich Karriere.

Haben Sie Ihnen Vorwürfe gemacht?

Paetau: Ich hatte vor allem mit meinem Vater Auseinandersetzungen. Als junger Mann habe ich ihm die Frage gestellt, was hast du im Dritten Reich getan? Und hast du von der Judenvernichtung gewusst? Es kam die Standardantwort: „Wir haben nichts gewusst, ich hatte eine schöne Kindheit und Jugend.“ Aus dieser Erfahrung kann ich sagen: Es bringt nichts, diese Punkte auszuklammern.

Sieht man am Beispiel Ihres Vaters, wie man als guter Mensch in eine böse Sache geraten kann?

Paetau: Der Mensch ist grundsätzlich verführbar, auch wir sind es. Irren kann man. Die Frage ist nur, ob man sich es später auch eingesteht.

Hat es Ihr Vater eingestanden?

Paetau: Später. Schlüsselerlebnisse waren für ihn Filme über den Holocaust in den 1970/80er Jahren. Mein Vater war ein typischer NS-Mitläufer. Die Frage mussten sich andere in höheren Positionen viel mehr stellen. Es gab aber früher Aussagen von meinem Vater, dafür hätte ich ihn hassen können. Er hat etwa 30 Jahre gebraucht, um sich der Geschichte des NS-Systems offen zu stellen. Ich kann Versöhnung aber nur fordern, wenn ich meine Geschichte aufarbeite. Das gilt jetzt für die Linke als Nachfolgepartei der SED. Ihre einzige Chance ist es, sich ihrer Geschichte zu stellen.

Heute ist oft die Rede von den beiden deutschen Diktaturen. Darf man das Nazi-Regime und die DDR in einen Topf werfen?

Paetau: Für Historiker ist der Vergleich von Systemen ein gängiges Mittel, das zum Handwerkszeug gehört. Vergleichen heißt aber nicht: gleichsetzen. Es gibt strukturelle Ähnlichkeiten, aber es gibt auch Unterschiede. Zum Beispiel wurde Hitler massenhaft von der Bevölkerung gewählt, die SED bei den Wahlen 1946 aber nicht. Die Judenvernichtung in Nazi-Deutschland ist ein singuläres Ereignis: Es wurden Millionen Menschen systematisch getötet. Das ist ohne Beispiel.

Bei diesem System-Vergleich findet man den größten Unterschied bei den ideellen Wurzeln. Marx’ Werke mit Hitlers „Mein Kampf“ zu vergleichen, ist absurd, weil man keine Gemeinsamkeiten findet. Marx Ideen hatten eine humane Substanz. Bei der braunen Ideologie war vom Herrenmenschen die Rede und von minderwertigen Rassen. Das Böse trieft in Hitlers Schriften aus jeder Zeile.

Paetau: Man kann Hitler und Marx natürlich nicht gleichsetzen. Da würde man Marx Unrecht tun. Die Nazis haben sich ja auch nur gängige Theorieteile wie Rosinen herausgepickt und daraus ihre Weltanschauung gezimmert. Es gehört dazu herauszuarbeiten, welche Ziele am Anfang standen. Entscheidend ist aber: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Es gilt der Satz: „Sage mir, wie du deine Ziele erreichen willst, und ich sage dir, welch’ Geistes Kind du bist.“

Quelle: MAZ

RAINER PAETAU UND DIE ARBEITSGRUPPE ZUR GESCHICHTE
Auf Initiative von Rainer Paetau wurde eine Arbeitsgruppe aus Heimatforschern aller Michendorfer Ortsteile gegründet.

In einem ersten Projekt untersuchte sie, wie die Orte bei den Reichstagswahlen von 1919 bis 1933 abstimmten. In den Archiven recherchierten unter anderem Stefanie und Kerstin Sohr, Dieter Kraus, Wolfgang Linke, Dirk Hase und Wolfgang Weber.

Der WILHELMSHORSTer Rainer Paetau arbeitet auch beruflich als Historiker und ist Sprecher der Arbeitsgruppe.

Bei den entscheidenden Reichstagswahlen im Juli 1932 bekam die NSDAP in Fresdorf (68 Prozent), Stücken (65), Wildenbruch (56) und Neu-Langerwisch (53) absolute Mehrheiten. In WILHELMSHORST waren es 46 Prozent, in Michendorf 47 Prozent, in Alt-Langerwisch 32 Prozent.