Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler in Wilhelmshorst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges

Frau Irmela Grasnick hat oft genug gedrängt: Das Thema „Umsiedler“ in Wilhelmshorst am Ende des letzten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit dürfen wir nicht ausblenden, ist es doch ein wichtiges Thema der Ortsgeschichte. Wie Recht sie damit hatte, sollte sich bald zeigen. Mit Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft „Ortsgeschichte Wilhelmshorst“ und mit tatkräftiger Hilfe von Frau Christa Stiemke hatte Frau Grasnick die Organisation übernommen und zum 24. März ins Café Willmann geladen. Dort trafen sich zum „ortsgeschichtlichen Sonntags-Gespräch“ 13 Wilhelmshorster, die ganz überwiegend als Kinder Flucht und Vertreibung mit ihren Eltern erlebt hatten.

Der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Ortsgeschichte“, Dr. Paetau, erinnerte in seiner Einführung an die durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöste Tragödie der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Sodann ermunterte Frau Grasnick die anwesenden „Zeitzeugen“ zum Erzählen über ihre Erinnerungen an diese wirren Jahre. Doch das war gar nicht nötig. Die Erlebnisse ihrer Jugendzeit seit 1944 sind im Gedächtnis noch so gegenwärtig, dass es lebhaft heraussprudelte. Und was sie zu erzählen wussten, hatte es an Dramatik in sich.

Atemlose Stille herrschte, als die Heimatvertriebenen jeweils das schreckliche Erleben in einer plastischen Eindringlichkeit schilderten. Die Zuhörer waren regelrecht betroffen ob dieser erlebten Schicksale. Da waren sie wieder, die schlimmen Kriegsereignisse: die Bombenangriffe und der Artilleriebeschuss auf Städte und Dörfer in Schlesien, Ostpreußen oder Pommern; das unaufhaltsame Näherrücken der Kriegsfront; die Evakuierungen und wochenlangen Flüchtlingstrecks im Winter 1944/45 quer durch Ostmitteleuropa. So unterschiedlich die jeweiligen Schicksale und Erfahrungen waren, gemeinsam war allen das Erleben von körperlicher Erschöpfung während tagelanger Fußmärsche, von Kälte und Nässe bei Fahrten auf offenen Lastwagen oder Güterzügen, von Hunger und Durst als tägliche Begleiter, Schlaflosigkeit und Übermüdung, Erkrankung und Zusammenbruch – und vieles andere Unglaubliche mehr.

Zur Sorge ums eigene Überleben kamen die Angst um die Eltern und Geschwister oder Nachrichten über das Vermisstsein oder gar den Tod von Angehörigen und Freunden. Dramatisch auch die Flucht vor Kriegshandlungen in zunächst sicher geglaubte Regionen, das erneute Weiterziehen und gelegentlich sogar die Rückkehr in die alte Heimat – bis wenig später doch die erneute Flucht kreuz und quer durch die Lande angetreten werden musste. Erschütternd ferner das Erleben von Plünderungen, persönlicher Erniedrigung und Gewaltanwendung durch einige Polen und Tschechen. Doch neben dem Leid konnten die Zeitzeugen auch über Tröstliches berichten. So etwa über humane Gesten einiger sowjetischer Soldaten, die in den Flüchtlingen  weniger den deutschen Feind als vielmehr den ums Überleben ringenden Menschen sahen und besonders ein Herz für Kinder hatten. Derartige Einzelfälle bleiben gerade aus einer Zeit unvergessen, die täglich von traumatischen Erlebnissen beherrscht war.

Nach einigen Wochen in Auffang- oder Sammellagern begann für die Flüchtlinge ein neuer Abschnitt mit der Ankunft in Wilhelmshorst, über den aus Zeitgründen meist nur kurz berichtet werden konnte. In den Erinnerungen steht die Wohnungsfrage ganz oben an. Wie woanders so waren auch in Wilhelmshorst Zwangseinweisungen und drangvolle Enge das Kennzeichen. Monatelang mussten Familien mit fünf oder mehr Kindern in einem Raum leben, der Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad zugleich war. Die Lebensmittelknappheit auch im ländlichen Raum liess den Hunger zu einem vorherrschenden Alltagserlebnis werden und prägte letztendlich die Sparsamkeit und Bescheidenheit dieser Kriegsgeneration. Wer etwas zum Tauschen anzubieten hatte, dem gelang das Überleben in der Nachkriegszeit besser.

Im Laufe der Zeit fanden die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten wieder Arbeit, die Kinder gingen zur Schule und erlernten Berufe, manche bauten sich Eigenes auf. Alle sind geachtete Bürger der Gemeinde und Wilhelmshorst ist ihre neue, zweite Heimat geworden – was für die Generation der Kinder, den heutigen Zeitzeugen, selbstverständlich ist.

Die Arbeitsgemeinschaft „Ortsgeschichte“ möchte im nächsten Winterhalbjahr diese „Sonntags-Gespräche“ mit weiteren Wilhelmshorster Zeitzeugen fortsetzen, um das Spektrum an Erinnerungsberichten zu erweitern (Interessierte wenden sich bitte an Frau Stiemke, Tel. 46785). Das Thema ist eben nicht nur ein Teil der Ortsgeschichte, es kann auch für uns Heutige einige Maßstäbe an die Hand geben. So veränderte sich die Bevölkerungsstruktur innerhalb weniger Jahre nur selten so stark wie in den späten 1940er Jahren, vergleichbar vielleicht mit dem Wandel seit Beginn der 1990er Jahre. Interessant ist das Thema ferner deswegen, weil es von anfänglichen sozialen Unterschieden und Spannungen handelt, die letztlich aber zu einer geglückten Integration führten.

Gleichwohl ist das Thema nicht ohne Brisanz. Es ist jahrzehntelang gesellschaftlich „verdrängt“ und sicherlich auch aus politischen Gründen mit Legenden und Tabus belegt gewesen – nicht zuletzt deswegen, um keinen Revanchismus-Verdacht aufkommen zu lassen und um sich als „moralisch-politisch Korrekte“ auszugeben. Hierfür steht auch der unspezifische, neutral klingende Begriff „Umsiedler“, wobei es sich in vielen Fällen um Heimatvertriebene handelt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines Zeitzeugen gewesen, der von der immer noch vorhandenen Sehnsucht nach der östlichen Heimat sprach – was im 21. Jahrhundert des neuen, zusammenwachsenden Europas staatsrechtlich problemlos sein sollte.
D. Kraus / R. Paetau

Quelle: Märkischer Bogen