1. Ortsgründung als Prozess

Wilhelmshorst wurde 1907 nicht „gegründet“ – nicht in dem Sinne, dass in diesem Jahr ein Gründungsakt stattgefunden hätte oder eine Gründungsurkunde ausgestellt worden sei. Vielmehr legte der Kaufmann Wilhelm Mühler aus (Berlin-)Charlottenburg 1907 offiziell bei den Behörden einen Parzellierungsplan vor. Dieser stellte die formale Grundlage dar, nach dem Wilhelmshorst(-Nord) im Wesentlichen bis heute hin besiedelt worden ist. Deshalb galt für die Gründergeneration 1907 zu Recht als „Geburtsjahr“ dieser Kolonie.
Entdeckt wurde das Gebiet am Fuße der „Schöne Berge“ nördlich von Neu-Langerwisch, wozu es damals gehörte, bereits 1903 von dem Architekten Gustav Winkler aus (Berlin-)Schöneberg. Er ließ sich hier mit seiner Familie in einer mobilen Unterkunft, dem legendären Eisenbahnwaggon, während der Sommermonate nieder. Winkler kann als Entdecker und erster Bewohner von Wilhelmshorst gelten. Der kurz danach erscheinende Mühler hingegen war der Ortsgründer im Sinne eines Projektentwicklers, der die Besiedlung in Gang setzte.
Für die Erschließung des Gebietes südlich der früheren „Wetzlarer Bahn“ (Berlin–Dessau) war die Wilhelmshorster Grundstücksgesellschaft GmbH zuständig. Sie legte 1911 einen Parzellierungsplan vor, der die Handschrift des renommierten Architekten Albert Gessner aus (Berlin-)Charlottenburg trug. Er entwarf eine größere Zahl von Landhäusern rund um den Irissee, den Bahnhof und den Bahnhofsvorplatz (Birkenwäldchen). Die Mehrzahl seiner Bauten steht heute unter Denkmalschutz.

2. Ein „Berliner Kindl“

Wilhelmshorst ist ein „Berliner Kindl“. Denn es waren Berliner bzw. Bewohner aus Charlottenburg oder Schöneberg, die den Ort gründeten und in den folgenden Jahrzehnten besiedelten. In der Mehrzahl handelte es sich um Angehörige der oberen Mittelschichten, teilweise auch der Oberschichten. Eine urbane Funktionselite sowie Freischaffende zogen seit der Jahrhundertwende aus der unwirtlichen Großstadt hinaus ins Grüne, vielfach junge Familien mit Kindern. So entstanden eine Reihe von Landhauskolonien und „Gartenstädten“ rund um Berlin, an der „suburbanen Peripherie“. Je abwechselungsreicher die Naturlage und je besser die Verkehrsanbindung ins Stadtzentrum, desto attraktiver der Standort, desto größer das Entwicklungspotential dieser neuen Siedlungen. Das traf besonders für den Raum südwestlich Berlins zu. Ohne die 1879 in Betrieb genommene „Wetzlarer Bahn“ gäbe es kein Wilhelmshorst, jedenfalls nicht an diesem Standort. Ein weiterer Lagevorteil war die Nähe zu Potsdam, zur Sommerresidenz der Hohenzollern-Könige Preußens. Natur und Kultur waren hier eng verknüpft.

3. Suburbanität

Zwischen „Mark“ und Metropole, vor den Toren der Hauptstadt: Das kennzeichnet die Lage der Landhaus- und Gartenstadtkolonie Wilhelmshorst seit der Gründung – und im Grunde bis heute hin oder seit 1990 verstärkt wieder. Die enge, vor allem beruflich bedingte Beziehung vieler Wilhelmshorster zu Berlin prägte den „suburbanen“ Charakter der Kolonie, erklärt ihre Sozialstruktur, die Mentalität der Bewohner und ihr Verhalten bis
hin zum Wählerverhalten. Die meisten Wilhelmshorster waren überdurchschnittlich qualifiziert, viele mit akademischer Ausbildung. Daher leitet sich der höhere Anteil derer ab, die in der Regierungsverwaltung, in Oberbehörden und in Bildungsinstituten der Hauptstadt tätig waren. Kurz: Die geplante Neugründung in relativer Nähe zum Zentrum der Hauptstadt in Verbindung mit einer spezifischen Sozialstruktur erklärt, warum Wilhelmshorst immer etwas Anderes (nicht: Besseres) gewesen ist als die über Jahrhunderte langsam gewachsenen Dörfer der Umgebung.

4. Wechsel der Bevölkerungsstrukturen

Freilich hatte die enge Berlin-Beziehung der Wilhelmshorster auch eine zweite, eine Kehrseite. Da viele Bürger zu den Trägern des jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Systems gehörten, spiegelt der Ort im Kleinen die wechselhafte Geschichte der deutschen Hauptstadt im 20. Jahrhundert. Die politischen und wirtschaftlichen Brüche und Neuanfänge von 1918/19, 1933 und 1945/49 wie von 1989/90 hatten zur Folge, dass die Wilhelmshorster Bevölkerung sich stark änderte: weniger in absoluten Zahlen als vielmehr von der Zusammensetzung, der Struktur her. Dabei verursachten die Ereignisse von 1945 und 1989/90 die tiefsten Einschnitte. Dieser Wechsel der Bevölkerung umfasste auch den Austausch der jeweiligen politischen Funktionsträger, in der NS-Zeit genauso wie in der DDR-Zeit und seit 1990. Das macht die hiesige Ortsgeschichte so spannend wie schwierig.

5. Auswirkungen der Deutschen Teilung

So hinterließen die Nachkriegszeit mit Kaltem Krieg und Teilung Berlins, insbesondere die Einmauerung West-Berlins seit 1961 in Wilhelmshorst deutliche Spuren. Die normalen Stadt-Umland-Beziehungen wurden zunächst unterhöhlt, dann unterbrochen: ehemalige Nazi-Systemträger kamen nicht mehr zurück; andere verließen aus Angst vor den Sowjets bzw. dem Kommunismus den Ort und setzten sich in den Westen ab („Westgrundstücke“); politische Gängelung und Mangelwirtschaft taten ein Übriges. So stagnierte die Wilhelmshorster Bevölkerungszahl bzw. entwickelte sich rückläufig bis zur Wende. Dieser Verlust an Freiheit, Kommunikation und Lebensstandard konnte durch Nichts kompensiert werden, schon gar nicht durch irgendeine Ideologie. Und da das Zentrum Ost-Berlins weiter entfernt lag, nahm der groß- und hauptstädtische Einfluss ab und der des mittelstädtischen Potsdams relativ zu. Gerade die drei Jahrzehnte einer bleiernen Stagnation seit 1961 wurden als solche auch empfunden und führten in vielen Fällen zur inneren Emigration, zum Rückzug in Alltagsnischen oder zum „Sich-Arrangieren“ mit dem SED-System. Typisches Kennzeichen für diese Phase der Ortsgeschichte war, dass die CDU den Bürgermeister stellte und die SED den Stellvertreter. Das erlaubte gewisse Spielräume wie den Bau des Tennisplatzes 1971–73 und setzte doch Grenzen, denn die Macht der SED durfte grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden.

6. Wiederkehr der Geschichte

Die Wiederkehr der Geschichte erfolgte mit der politischen Wende von 1989/90: Die regulären Stadt-Umland-Beziehungen haben sich in Wilhelmshorst seitdem neu eingependelt. Wiederum erfolgte ein großer Austausch der Bevölkerung, nicht sofort, aber allmählich innerhalb von 10 bis 15 Jahren. Die Zahl der Grundstücks-Rückübertragungen ist vergleichsweise hoch gewesen. Berliner und andere Stadtbewohner ziehen wieder zu. Der Ort expandiert mit all den bekannten Konsequenzen. Lebten Ende 1990 hier rund 1800 Einwohner, stieg deren Zahl bis Ende 2006 auf 2800. Es sind vor allem wieder junge Familien, zum Teil auch frisch Pensionierte und meist gut Ausgebildete, die sich vor den Toren der Hauptstadt in naturnaher Umgebung niederlassen. Dabei ist das
Wilhelmshorster Siedlungspotential nicht ausgeschöpft – es gibt noch immer zahlreiche Grundstücke zur Lückenbebauung im Innenbereich.

7. Architekturen

Wilhelmshorst wurde als Gartenstadt- und Landhauskolonie gegründet. Die Zahl der Villen blieb auf Einzelfälle begrenzt. Es dominierte das Einfamilienhaus. Daneben gab es eine größere Zahl von einfachen Sommer- und Gartenhäusern, die saisonal vom Frühsommer bis zum Herbst genutzt wurden, manchmal auch nur am Wochenende. Eine ganze Reihe von Grundstücken blieb unbebaut. Da es keinen starren Bebauungsplan gab und gibt, sind in Wilhelmshorst unterschiedliche, manchmal gegensätzliche Baustile vorhanden – so kam um 1930 das Wort vom „Schlachtfeld der Architekten“ auf. Architekturhistorische Bedeutung haben einige Objekte des „Neuen Bauens“ aus der Zeit der Weimarer Republik, als aus der Not heraus auch mit neuen Baustoffen experimentiert wurde (Beispiel „Kupferhaus“). Vorherrschend sind in Wilhelmshorst indes Varianten der um 1900 aufgekommenen Heimatschutz-Architektur, die bis in die 1930er Jahre reichte. Deren Flair ist heute wieder zu spüren, nachdem diese Häuser meist vorsichtig restauriert worden sind. Gleichzeitig prägen seit 1990 wiederum unterschiedlich „moderne“ Bauten das Gesicht des Ortes.
Die Grundstücke wiesen ursprünglich eine durchschnittliche Größe von rund 2500 qm auf; manche hatten die doppelte Größe, nur wenige reichten an 10.000 qm heran. Später und forciert seit 1990 sind die meisten Grundstücke geteilt worden, nicht zuletzt aus Kostengründen. Flächen von 800 bis 1300 qm gelten seitdem als akzeptable Größe, um den Charakter einer Waldsiedlung nicht zu gefährden.

8. Werden und Wandel einer Waldsiedlung

Wilhelmshorst war anfangs keine Waldsiedlung bzw. dies nur zum kleineren Teil. Am Fuße der „Schöne Berge“ gab es große Areale, die wegen des Sanderbodens einer typischen Heidelandschaft glichen: mit Heidekraut, Wacholder, Büschen und einzelnen Kiefern. Zur Waldsiedlung ist Wilhelmshorst erst geworden, etwa durch Aufforstung oder durch Renaturierung von unbebauten und nach 1945 „verlassenen“ Grundstücken. Deshalb dürfte der „Wald“-Anteil auf dem Siedlungsgebiet in den 1980er Jahren am dichtesten gewesen sein, als die Bevölkerungszahl stagnierte und Holz nicht notwendig als Heizmaterial wie in den Nachkriegsjahren und den Jahrzehnten zuvor benötigt wurde.
Die Zunahme der Bevölkerung und die verdichtete Bebauung seit 1990 in Verbindung mit Grundstücksteilungen führen zwangsläufig zu einer Verminderung des Baumbestandes, ohne dass der Ort deswegen seinen Flair als Waldsiedlung verlieren muss. Dieser grundsätzliche Zielkonflikt erfordert ein vernünftiges Austarieren der Interessen. Totalabholzungen ganzer Grundstücke, wie sie – zum Glück nur in Einzelfällen – vorgekommen sind, widersprechen jedenfalls dem Leitbild einer Waldsiedlung.

9. Kulturgeschichtliche Verluste

Die engen Beziehungen der Wilhelmshorster mit der Berliner Hauptstadtgeschichte und ihren Brüchen des 20. Jahrhunderts, die vor allem nach 1945 und nach 1990 zu einem tiefgehenden Austausch der Bevölkerung führten, hatten auch zur Folge, dass im Ort Überlieferungen und Traditionen verloren gegangen sind – bis hin zum Verlust von Gemeindeakten und Erfahrungswissen über die Ortsgeschichte. Umso wichtiger ist es, weit verstreute Unterlagen und Gegenstände zur Orts- und Kulturgeschichte neu zu sammeln und aufzubewahren. Hier liegt auch einer der Gründe, warum bestimmte, gerade „sensible“ Themen der Ortsgeschichte noch aufzuarbeiten bleiben.

10. Die Gegenwart der Vergangenheit

Die doch weithin zu beobachtende Tendenz, die eigene(n) Vergangenheit(en) „in den Müll zu werfen“ – was durchaus wörtlich zu nehmen ist – und bewusst oder unbewusst „vergessen“ zu wollen, mag vielleicht in einigen Fällen verständlich erscheinen, ist letztendlich aber kontraproduktiv. Geschichte wirkt in solchen Fällen bedrückend weiter. Erst wenn vergangenes Geschehen wirklich aufgearbeitet und erinnert wird, ist es auch vergangen. Spätestens unsere Kinder und Enkel, die irgendwann wissen wollen, wo ihre Eltern und Großeltern herkommen und was sie „damals“ gemacht haben, werden der potentiellen Erinnerungslosigkeit auf die Spur kommen und uns den Spiegel vorhalten, ob lebend oder tot. Deshalb tun wir gut daran, unsere Vergangenheit so anzunehmen, wie sie nun einmal war. Lassen wir uns auf die Vielfalt der Vergangenheiten ein, die jeder auf seine Weise erlebt hat. Vor allem aber: Geschichte ist immer beides – Glück und Unglück, Last und Befreiung. Selten ist sie ein einfaches Schwarz oder Weiß, sondern meist ein verschwimmendes Grau. Einer Tatsache können wir jedenfalls nicht entgehen: Wir sind, was wir geworden sind.

Wolfgang Linke / Rainer Paetau – Märkischer Bogen